Die digitale Transformation ist mehr als Industrie 4.0, und sie stoppt sicher auch nicht am Werkstor. Sie steht vielmehr für bisher nie da gewesene Geschäftsmodelle, neue Marktperspektiven und gesellschaftliche Innovationen. Wie wichtig es dabei ist, sich auf Wertschöpfung und Wertverteilung zu fokussieren und welcher Ansatz hilfreich sein kann, erklären Andreas Jamm, Geschäftsführer BOLDLY GO INDUSTRIES, und Dr. Winfried Felser, Geschäftsführer NetSkill Solutions.
Wie jede Neuerung spaltet auch die digitale Transformation mit all ihren Ausprägungen und Facetten die Lager: in Fans und in Kritiker. Letzteren spielt das im Sommer 2016 erschienene Buch „Illusion 4.0 – Deutschlands naiver Traum von der smarten Fabrik“ von Professor Andreas Syska in die Hände, macht es doch deutlich, dass Industrie 4.0 noch lange nicht alle Skeptiker überzeugen konnte. Kritisiert wird darin u.a. die Technikorientierung ohne Wertorientierung und die Beschränkung „am Werkstor“. Im Gegenzug wird ein größeres Gesamtbild gesucht, das auch die gesellschaftlichen Implikationen, vor allem aber den Kunden und dessen Wertschöpfung, einbezieht.
Und trotz aller Effizienzversprechen von Industrie 4.0 müssen viele Unternehmen nach wie vor von Industrie-4.0- bzw. Ökonomie-4.0-Ansätzen überzeugt werden. Der Grund: Bisher werden sowohl Potenziale über die gesamte Wertschöpfungskette als auch der Wandel der Geschäftsmodelle nicht ausreichend berücksichtigt und kommuniziert. Aber erst eine solche Gesamtbetrachtung zeigt den optimalen Sinn und Nutzen einer Business Transformation und erlaubt anschließend sinnvolle Priorisierungen. Aus dieser vielfältigen Kritik an den bisherigen Industrie-4.0-Bemühungen lassen sich im Umkehrschluss Handlungsempfehlungen ableiten:
Neuer Fokus 4.0: |
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Wer eine neue, kollaborativere Netzwerkökonomie fordert, sollte auch in ihrem Sinne agieren, wenn es darum geht, Industrie-4.0-Projekte zu realisieren. Daher gilt:
Neues Vorgehen 4.0: |
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Der neue Fokus auf Werte und Wertschöpfung bedeutet vor allem auch eines: Wir müssen Industrie 4.0 neu interpretieren und neu verstehen. Der anfangs dominierende, technische Fokus auf „Industrie 4.0 = Internet of Things (IoT)“ und ein paar vernetzte Maschinen muss überwunden werden, um künftigen Erfolg sicherzustellen. Denn Technik ist kein Selbstzweck. Stattdessen muss eine neue Wertschöpfung als Essenz von Industrie 4.0 im Vordergrund stehen, die sich an den neuen ökonomischen Rahmenbedingungen ausrichtet. Vereinfacht: Netzwerkbasierte, kollaborative Wertschöpfung – oft im Rahmen virtueller Plattformen – ersetzt in einer Ökonomie 4.0 die linearen Pipelines. Das ist die Essenz 4.0, während Technologie für die neue Wertschöpfung vor allem der Enabler ist.
Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, aber auch neue Markt-Chancen erkennen und aufgreifen zu können, ist ein kreatives Umdenken hin zu innovativen oder disruptiven Geschäftsmodellen dringend notwendig. Eine end-to-end ausgerichtete, konsequente Nutzerzentrierung wird mit steigender Transparenz und mehrseitigem Marktzugang noch wichtiger als je zuvor. Unternehmen müssen sich folgende Frage stellen: Was will der digitale Kunde und worauf legen er und sein Influencer-Umfeld Wert? Mögliche Antworten können sein: auf einen direkten, einfachen und unmittelbaren Zugang zu Produkten und Services, auf individualisierte Inhalte und Leistungen aus nachhaltigem Kontext, und das alles am besten zu bedarfsorientierten Preisen.
Das bleibt aber nicht ohne Folgen für die Organisationsstrukturen, die entsprechend leistungsfähig und struktur-kompatibel sein müssen, um die komplexen neuen Märkte beherrschen können. Silos oder Misstrauenskulturen in Supply-Chains sind keine Option mehr.
Eine neue Kultur ist aber nicht nur entscheidend für die neue Ökonomie, sondern auch essentielle Basis für den kollaborativen (internen und externen) Wandlungsprozess selbst. Um erfolgreich neue Lösungsmuster zu erkennen und alte überwinden zu können, lautet eine Empfehlung, sich kollaborativ inspirieren zu lassen, um die Netzwerkökonomie und ihre spezifischen Mehrwerte besser zu verstehen. Das schließt auch mit ein, „rauszugehen und aktiv zu netzwerken“ (z.B. auf Events, Workshops, Barcamps, etc.), um so von den Meinungsführern und Innovatoren im Feld zu lernen und ggf. Kollaborationen mit ihnen einzugehen. So lassen sich neue, aber bereits erprobte Werteparadigmen direkt testen und ein Mehrwert für alle dank effizienterer Teamarbeit generieren.
Manchmal gewinnen die, die sich einfach trauen und anfangen. Tools und Technologien gibt es inzwischen ausreichend am Markt. Nun gilt es, sie iterativ zu testen, um sich mit den technischen Grundausstattungen und Methoden der neuen, digitalen Netzwerkökonomie vertraut zu machen, erste Kooperationen einzugehen und Prototypen und Pilotprojekte aufzusetzen. Für das Schaffen und die Pflege neuer Netzwerkknotenpunkte können z.B. eigene Co-Working Spaces, Digital Labs, Inkubatoren u. ä. sorgen. Wertpotenzial aus digitaler Vernetzung bedeutet immer auch, sich mit Neugier und Offenheit andere Branchen, die in Teilbereichen schon Vorreiterrollen einnehmen, genau anzusehen und zu lernen.
Für eine solche Vernetzung benötigen Unternehmen aber auch eine Orientierungshilfe, die die Wertetreiber primär einordnet und praxiserprobte Lösungskonzepte aufzeigt. Genau dieser Herausforderung stellt sich die Value Landscape 4.0. „Bisher gibt es ein Integrationsdefizit der gesamtheitlichen Wertelandkarte und bei der Wechselwirkung bisher getrennt betrachteter Bereiche, wie beispielsweise bei der Lieferanten-Performance und der Kundenzufriedenheit“, erklärt Andreas Jamm, Gründer und CEO von BOLDLY GO INDUSTRIES, und ergänzt, „mit der Initiative „Value Landscape 4.0“ wollen wir interessierte Unternehmen einladen, ihre Wertepotenziale in der Ära Industrie 4.0 zu entdecken und zu nutzen.“ Hier geht es darum interne, externe und heterogene Daten zu verdichten und die Zusammenhänge der eigenen Wertschöpfungskette als Teil einer übergeordneten Wertschöpfungskette für eine Wertebetrachtung zu verstehen.
Fakt ist: Die digitale Welt mit ihrer neuen Netzwerkökonomie verlangt end-to-end-basierte Geschäftsmodelle, um alle Wertepotenziale zu erkennen. Kleinteilige, funktionale Prozessablaufoptimierungen, wie beispielsweise die Verkürzung von Bestellfreigabeprozessen um Skonti und Rabatte zu sichern, reichen nicht mehr aus. Es gilt, durch Vernetzung, Transparenz und Datenverfügbarkeit Wertpotenziale funktions-, abteilungs-, unternehmensübergreifend zu identifizieren und auszuschöpfen. So sieht die produzierende Industrie zukünftig große Mehrwert-Potenziale in der individuellen Massenfertigung oder der sogenannten Losgröße Eins. Um diese Flexibilität jedoch bei durchsetzbaren Marktpreisen anbieten zu können, werden die Unternehmen zunächst in den Ausbau unternehmensübergreifender Transparenz der vernetzten Wertschöpfungsketten sowie in zunehmend selbstgesteuerte Automatisierung zwischen Logistik- und Produktionsprozessen mit Hilfe von IoT-Lösungen investieren müssen.
Der Value Landscape 4.0 Ansatz geht ebenfalls davon aus, dass in einem dynamisch-komplexen Umfeld Geschäftsmodelle und -prozesse agil und wandelbar sein sollten. Die strukturelle Logik des Modells lehnt sich daher an andere „New Business-Modelle“ wie das Business Model Canvas nach Osterwalde an, vermeidet aber in der Darstellung die Vorstellung starrer, abgegrenzter Gestaltungsbereiche. Eine organische, beinahe „schaumartige“ Abbildungsform des Modells ist deshalb eher geeignet, um identifizierte Wertetreiber zu verorten und zu vernetzen. Wie die Value Landscape 4.0 und die in ihr verschiedenen abgebildeten Innovationen mit 4.0-Fokus aussehen, zeigt folgende Skizze:
Abbildung 1: Value Landscape 4.0 (Bildquelle: BOLDLY GO INDUSTRIES)
So finden sich beispielsweise im Bereich Kundenorientierung die Wertpotenziale Individualisierung 4.0 und Co-Creation. Anbieter von Produktkonfiguratoren wie camos sehen alleine durch eine bessere Ausschöpfung der Kundenwünsche und somit durch eine umfassendere Individualisierung enorme Potenziale für Zusatzumsätze bzw. zusätzliche Mehrwerte, von Effizienzvorteilen ganz abgesehen.
Die Service-Dominant Logic ist eine ökonomische Betrachtung des Austauschs zwischen Unternehmen und Kunden mit dem Fokus auf Dienstleistungen. Sie ermöglicht zusätzliche Wertpotenziale, indem Produkte zu Services bis hin zu ganzheitlichen Geschäftsmodellen und Service-Plattformen ausgeweitet werden. Wer also immer nur Predictive Maintenance und Uber als Beispiele für Wertpotenziale in der digitalen Ökonomie aufführt, reduziert das enorme Potenzial auf nur zwei, durch Redundanz mittlerweile relativ unspannend gewordene Alternativen.
Alle Unternehmen, die ihren Horizont erweitern und umfassende Perspektiven kennen lernen möchten, können gerne Teil der Initiative werden. Wenden Sie sich dafür an die Autoren dieses Beitrages.