Offensichtlich stehen wir bei der Organisation von Arbeit in Unternehmen an einem Wendepunkt. In einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales "Wertewelten Arbeiten 4.0" im März 2016 wagen die Verfasser einen weiten Blick in die Zukunft. Die 1.200 Befragten, allesamt angestellte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, werden nach ihren Vorstellungen von Arbeit heute und im Jahr 2030 befragt. Die Antworten offenbaren einen klaren Trend: Die Menschen fühlen sich in starren Organisationen verloren und von unflexiblen Regelwerken und direktiver Führung eingeengt. Sie wollen als mündiges Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft angesehen werden, sind bereit für mehr Eigenverantwortung, wollen bei Entscheidungen mitwirken, die sie und ihre Arbeit betreffen und eigene Ideale und Ideen in ihrer Organisation realisieren können.
Das klingt nach zunächst nach psychosozialer Palastrevolution. Schließlich sind Organisationen auf Leistungsfähigkeit und Gewinnerzielung ausgerichtet. Welche Rolle spielen also die sogenannten „harten Faktoren“? Bernhard Badura von der Universität Bielefeld ist dieser Frage in einigen standardisierten Befragungen nachgegangen. Tatsächlich wird darin bestätigt, dass Faktoren wie innovative Technik, effiziente Prozesse, die Einhaltung von Regeln und eine herausragende fachliche Qualifikation die Basis bilden für die Erfüllung des Leistungszieles einer Organisation. Allerdings wackelt diese Basis, wenn die Qualität der Kooperation, das Betriebsklima, die Qualität der Führung, gemeinsame Werte und die soziale Kompetenz der Mitarbeiterinnen nicht passen. Diese eher weichen Faktoren sind dagegen die Haupttreiber von Arbeitsfähigkeit und Motivation, verringern das Auftreten von Konflikten, Mobbing und innerer Kündigung.
Die bisherigen Ansätze in der Organisationsentwicklung zielen darauf ab, die soziale Kompetenz von Individuen, Teams und Führungskräften zu stärken. Teamentwicklungen, Coachings, Supervisionen und die Führungskräfteentwicklung mit immer neuen Ansätzen wie dem aktuellen Neuroleadership haben hier ihren Platz; oft im Verbund mit einer Wertevereinbarung in Form von Leitbildern. Dieser Ansatz ist also stark auf das Verhalten von Menschen ausgerichtet.
Die Erfolge aus agil aufgestellten Projekten – vor allem nach dem SCRUM-Muster bei IT-Projekten - wurden möglich, weil zusätzlich strukturelle Veränderungen in der Arbeitsorganisation ermöglicht wurden: klare Rollen auf Kunden- und Entwicklerseite, ein auf Selbstverpflichtung aufbauendes Lieferversprechen und der Aufbau dynamischer und sich selbststeuernder Feedbackschleifen.
Diese Grundgedanken werden in der Soziokratie aufgegriffen und vertieft. Organisationen werden dabei wie ein lebendiger Organismus gesehen. Alles Lebendige braucht zum Überleben mindestens drei Funktionen: eine Intention und Ausrichtung (Werte, Ziele), eine Funktion des Umsetzens und eine Funktion, die die Wirkungen des Umsetzens erkennt und mit der Intention vergleicht. Aus diesem Vergleich kann sie lernen und sich dynamisch an Veränderungen der Umwelt anpassen. Lineare Strukturen - wie die klassische Hierarchie und ihre Varianten in z.B. der Matrixorganisation - sind stark in der Leitung (Ausrichtung) und im Ausführen, aber schwach im Messen der Wirkung und im Lernen. Messen kann die Basis besser, weil sie näher dran ist. Die Menschen im Maschinenraum wissen, was rund läuft und was nicht. Deren Rückmeldungen landen aber oft nicht bei den Entscheidungsträgern. Das wird auch durch ein Verbesserungs- und Vorschlagswesen nicht einfacher. In der Konsequenz sind die Führenden auf Informationen aus zweiter Hand und auf formalisierte Berichte angewiesen; sie führen also mit zweitklassigen Informationen. Die Mitarbeiter an der Basis verhalten sich passiv, oft aus der Erfahrung, dass Informationsangebote auf dem Weg nach oben versickern. Im schlimmsten Fall bleibt die Leitung ohne Rückmeldung. Vermutlich ist das einer der Gründe, warum es trotz der anerkannten Erkenntnisse von Peter Senge (Die 5. Disziplin) so schwerfällt, lernende Organisationen zu entwickeln.
Die Soziokratie ermöglicht Rückkopplung und Lernen indem sie die Vorteile der klassischen Hierarchie mit etwas Neuem zusammenbringt. Ergänzend zur hierarchischen Ordnung für die Ausführung wird eine zweite Struktur geschaffen, die das Messen und Lernen sicherstellt und in der Entscheidungen getroffen werden, bei denen Wahrnehmungen der Basis mit einbezogen werden. Damit die beiden Teile gut zusammenarbeiten, werden 4 Strukturelemente eingeführt:
Die Einführung der Methode geht umso reibungsloser, je klarer sich die aktuelle Leitung darüber wird, wieweit sie bereit ist, Entscheidungsmacht und damit auch Verantwortung mit anderen zu teilen. Für diesen Preis wird ein Nutzen möglich, der den Zielkonflikt zwischen Leistungsorientierung und Rentabilität einerseits und Kooperation und Menschlichkeit andererseits auflösen kann. Aus der Sicht der beteiligten Menschen beschreiben den Nutzen mit Worten wie:
Die Soziokratische Kreisorganisationsmethode kommt nicht mit dem Anspruch, alles Bisherige abzulösen. Sie ergänzt dort, wo etwas gefehlt hat!
Gastbeitrag von Gerhard Leinweber. Er berät BOLDLY GO INDUSTRIES rundum die Soziokratische Kreisorganisation.
Unternehmen nutzen häufig eine hierarchische lineare Struktur für die Organisation und die Führung. Die oberen Ebenen leiten, das heißt, hier werden Beschlüsse verabschiedet, und die unteren Ebenen führen aus. Ein Messen beziehungsweise ein Prüfen der Ergebnisse findet entweder gar nicht oder nur teilweise statt. Die Vorteile dieses Modells sind schnelle Beschlüsse samt deren Ausführung sowie eine eindeutige Verantwortung. Allerdings verhalten sich Mitarbeitende in diesem Modell meistens passiv, sodass die oberen Ebenen im schlimmsten Fall ohne Rückmeldung bleiben. Außerdem bewerten die oberen Ebenen die Relevanz der Informationen der unteren Ebenen, was ebenfalls Fehler verursachen kann. Die soziokratische Kreisorganisationsmethode – vereinfacht Soziokratie – ergänzt die lineare Organisation durch eine zusätzliche Struktur. In dieser neuen Struktur aus verschiedenen Kreisen werden die Rahmenbedingungen der Beschlüsse und Ausführungen vereinbart, sowie Ergebnisse gemessen und geprüft. Das erfolgreiche Zusammenspiel zwischen bestehender linearer Organisation und neuer Struktur ermöglichen vier Basisregeln. |
Die Soziokratie ergänzt die bestehende Struktur für die Organisation und die Führung um eine Struktur aus einzelnen Kreisen. Innerhalb dieser Kreise werden Grundsatzbeschlüsse beschlossen. In einem Kreis versammeln sich alle Mitarbeitende, welche sich für das Erreichen eines bestimmten Zieles verantwortlich erklären. Außerdem erstellt jeder Kreis eigene Protokolle über vereinbarte Beschlüsse sowie über fachliche Kenntnisse, welche fortwährend erweitert werden. Die Beschlüsse der einzelnen Kreise werden von Freiwilligen ausgeführt. Die Verbindung zwischen einzelnen Kreisen verantworten die Leiter der Kreise sowie die Delegierten der Kreise, welche beide gewählt werden. Während der Leiter eines Kreises allen voran das Ausführen der Beschlüsse vorantreibt, misst und prüft der Delegierte die Ergebnisse der Beschlüsse. Darüber hinaus erhalten alle Personen Aufgaben und Funktionen durch eine offene Wahl. Offene Wahl bedeutet hier, dass alle für eine Person unterstützenden Argumente offen vermittelt werden, sodass alle Mitarbeitenden diese Argumente kennen. Alle Aufgaben und Funktionen sind zeitlich begrenzt. Folglich erfordert die Soziokratie regelmäßige Wahlen. |