Fragen an Andreas Jamm, CEO von BOLDLY GO INDUSTRIES, interviewt von Dr. Winfried Felser:
"Digitale Transformation bleibt in Deutschland meist auf der Technologieebene stecken.“ Spätestens seit diesem Warn- und Weckruf von Holger Schmidt und der Umfrage von BearingPoint ahnt man, dass etwas schief läuft in Deutschland, selbst wenn digitalisiert wird. Zu selten wird wirklich die Logik der Wertschöpfung verändert. So wird im besten Fall die Effizienz optimiert, aber die Chance auf neue „Mehr-Werte“ wird verpasst. Oft kommen Unternehmen nicht über den Technik-Fetisch und Cargo-Kulte hinaus. Wie bewerten Sie - Herr Andreas Jamm - vielleicht etwas differenzierter - den Status-Quo der Digitalisierung? Was läuft noch schief und warum? Was verhindert den echten Erfolg?
Andreas Jamm: Digitale Transformation wird getrieben durch die immanenten Digitalisierungsbestrebungen und bedarf einer genaueren Betrachtung als bisher. Wenn man heute fragt, was darunter zu verstehen ist, werden unterschiedliche Ebenen adressiert. Digitale Transformation steht aber insbesondere für neue Geschäftsmodelle mit neuen Produkten und Diensten. Und dies beinhaltet auch, dass Unternehmen sich als Ganzes neu ausrichten oder erfinden müssen.
In der Masse wird Digitalisierung leider immer noch als der nächste technologische Schritt verstanden. Als Technologie, die neue Möglichkeiten und Funktionen liefert, aber nicht etwas in Frage stellt. Wenn man Digitalisierung aus der rein technologischen Brille betrachtet, sind wir in Deutschland wahrscheinlich schon Weltmeister.
"Es mangelt nicht an Ingenieurskunst, der Fähigkeit Sensoren an etwas zu schrauben oder Geräte zu vernetzen."
Meine Waschmaschine kann ich mit dem iPhone bedienen. Aber ist das Digitalisierung, wie sie gebraucht wird? Wenn man im gleichen Atemzug über neue, disruptive Geschäftsmodelle spricht, wie Uber, Airbnb, dann lässt sich diese Erwartungshaltung an Transformation und Digitalisierung nicht vereinbaren. Eine App-gesteuerte Waschmaschine ist eben kein Dash-Button von Amazon. Die Lösung liegt darin die maximale Kundenperspektive einzunehmen. Wie kann der Kunde in eine neue Form der Unterstützung katapultiert werden? Es kann nicht sein, dass man nur an der Bedienungsfreundlichkeit arbeitet oder dem Kunden Gerätedaten verfügbar macht, die aber faktisch keinen Mehrwert liefern. In der letzten Konsequenz geht es darum den Kunden bei seinen Problemen abzuholen und diese dann in sinnvolle digitale Lösungen zu packen. Somit ist die bisherige Sichtweise auf das Thema Digitalisierung in Deutschland das Problem. Es fällt vielen schwer den nächsten Schritt zur Transformation zu wagen, weil im Kleinen gedacht wird und der Mut fehlt in neue Lösungsfelder zu springen - also mit aller Konsequenz disruptiv zu sein und zu handeln.
Zunächst wurde bei der Digitalisierung oft intern und lokal gedacht und Effizienz optimiert. Das ruft nach neuem Marktfokus, Denken in Mehrwerten und Value@Scale. Reicht das? Was ist Ihr Zielszenario für ein Neudenken von Wertschöpfung, Märkten und Organisationen? Wie würden Sie die perfekte „Digitalisierung“ beschreiben?
Andreas Jamm: Mit der Initiative Value Landscape haben wir bereits eine Diskussion über das Zukunftsthema Digitalisierung von Wertschöpfungsnetzwerken angestoßen. So eine Werteoffensive über das Werkstor hinaus kann nur durch Partnerschaften entstehen, die auch den Kunden einschließt, sodass gerade für ihn Werte in den erforderlichen Ausprägungen sichtbar und nachvollziehbar werden. Darin liegen unsagbar viele Möglichkeiten, die über die bisherigen Effizienz- und Optimierungsbemühungen der Digitalisierung hinausgehen.
"Mit der partnerschaftlichen Bündelung von digitalen Lösungsansätzen können ökonomische, ökologische oder gesellschaftliche Herausforderungen gemeistert werden."
Dafür müssen jedoch alle beteiligten Stakeholder ihre Karten auf den Tisch legen. Es geht um Offenheit, Ehrlichkeit, Fairness und natürlich Markttransparenz. Leider sehen wir jedoch einen gegensätzlichen Trend. Die Markttransparenz nimmt eher ab.
Digitale Filter verschleiert Informationen, Angebote und verändert die Mündigkeit der Menschen nachteilig. Digitale Daten und Informationen sollten einen positiven, werteorientierten Beitrag leisten. Ein Umdenken und ein Mitwirken der Gatekeeper ist deshalb erforderlich damit Transparenz über die Wertschöpfungkette erreicht wird.
Selbst wenn Unternehmen die Sinnhaftigkeit eines Wandels z.B. auf Ebene des Top-Managements verstanden haben, fällt die Transformation nicht vom Himmel. Eine Fehlfokussierung auf „vor allem Technik“ muss aktiv überwunden werden und auch das Wegdefinieren in Richtung einzelner unverbundener Inseln. Was ist der richtige Fokus der Transformation und wie identifiziert man die richtigen Prioritäten für den Wandel? Wie sorgt man dafür, dass die Transformation in der Breite jenseits einzelner Inseln der Glückseligkeit gelingt? Wie nimmt man alle mit, die man mitnehmen möchte und überwindet Skepsis und negative „Einstellungseffekte“? Was sind die wichtigsten Maßnahmen, damit der Erfolg am Ende gelingt?
Andreas Jamm: Wenn man Digitale Transformation nicht allein als eine rein IT-getriebene Aufgabe versteht, sondern sie als einen Sprung hin zu einem anderen, neuen Geschäftsmodell mit einer entsprechenden Kultur begreift, dann muss man auch die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Und Rahmenbedingungen heißt, dass hierfür die Gesamtorganisation entsprechend ausgerichtet werden muss. So, wie man gestern ein Unternehmen für die Old-Economy gebaut hat, braucht es nun eine Organisation, die für die New-Economy und den Herausforderungen des digitalen Zeitalters funktioniert. Dazu gehören alle Dimensionen der Organisationsgestaltung. People, Leadership, Culture, Process, Space, usw. sind am Ende die Dimensionen, die ein Unternehmen zukunfts- und wettbewerbsfähig machen. Einzelne Dimensionen herauszugreifen und zu ändern, reicht nicht aus.
"Der holistische Zusammenhang muss von allen Beteiligten verstanden und, besonders wichtig, auch akzeptiert werden. Erst dann kann darüber gesprochen werden mit welchen Schritten und in welcher Geschwindigkeit die Digitale Transformation angegangen wird."
Wenn der gesamtheitliche, nicht-separierbare Ansatz nicht verstanden wird, bleibt es nur bei einer unzureichenden Zustandsoptimierung. Unsere Innovations- und Technologieberatung durchlebt seit mehreren Jahren einen Transformationsprozess, der aufgrund unseres hohen Anspruchs an Marktagilität auch weiter anhalten wird. Dieser stetige Wandel mit seinen iterativen Anpassungen ist für das gesamte Team herausfordernd. Es sichert unsere gemeinsamen Unternehmungen aber auch die Zukunft!
Deutscher Mittelstand winkt gerne ab, wenn ihm als Benchmark für eine digitale Transformation Unternehmen wie Google oder Zappos präsentiert werden. Zu unterschiedlich sind Business-Modell, finanzielle Möglichkeiten und Risikobereitschaft. Können Sie Unternehmen nennen, die Ihrer Meinung nach eine erfolgreiche Digitale Transformation realisieren? Was war der Ausgangspunkt, was wurde transformiert, was wurde erreicht und wie gelang der Erfolg systematisch?
Andreas Jamm: Ein mittelständisches Unternehmen, welches viele Facetten einer Digitalen Transformation durchlebt hat, ist die Firma Truma. Der Weg von einem reinen Gerätehersteller hin zu einem Systemanbieter für komfortables Reisen bedurfte eines mutigen Umdenkens und Handelns. Das Unternehmen brachte 1961 die „erste offiziell anerkannte Wohnwagenheizung“ auf den Markt und entwickelte sein Geschäftsmodell und seine Unternehmenskultur über die letzten Jahre konsequent weiter. Die Produktpalette reicht mittlerweile von Heiz-, Klima- und Energiesystemen bis zu Rangiersystemen für Caravans. Das Familienunternehmen bietet neue Produkte und Services, die die Innovationsführerschaft sichern und die Kunden begeistern. So sind Produkte von Truma inzwischen digital vernetzt und über Apps steuerbar. Dies gelang jedoch nur, weil neben dem Produkt- und Serviceportfolio unter anderem auch die Markenbotschaft, das Management-/Führungskonzept, die organisatorischen Strukturen und die Arbeitsumgebung transformiert wurden. Die Neuausrichtung betraf alle Bereiche und sichert so die Zukunftsfähigkeit von Truma.
In Worst Case Szenarien kommt es zu dystopischen Entwicklungen mit Prekariat, zunehmender Dualisierung und Destabilisierung unserer Demokratie. Wie realistisch sind solche Szenarien? Was kann „man“ dagegen tun, was tun Sie?
Andreas Jamm: Es ist schon jetzt für viele Menschen spürbar, dass die zunehmende, rasante Digitalisierung unsere Gesellschaft verändert und prägt. Digitalisierungsverweigerer oder Abgehängte, die populistisch argumentieren und polarisieren, werden die Zukunft in ihrem Sinne und für ihre Zwecke düster zeichnen. Deshalb stehen Wirtschaft und Politik hier in der Verantwortung Antworten auf diese Veränderungen zu geben und Maßnahmen einzuleiten, die dem entgegenwirken. Politik muss die Menschen auf die zukünftigen Arbeitsmarktchancen hinweisen und auf die Arbeitswelt von übermorgen vorbereiten. Es gilt die Vorteile und Mehrwerte der Digitalisierung zu verbalisieren. Nicht nur in einem übergeordneten, sondern in einem verständlichen und nachvollziehbaren Kontext.
"Menschen müssen lernen, dass sich das heutige Verständnis von Arbeit radikal ändert und Attribute, wie Eigenverantwortung und -initiative wichtiger werden."
Aber auch Unternehmen müssen jetzt vorausschauend ihre Organisation und ihre Mitarbeiter auf diesen Wandel vorbereiten. Sie stehen insbesondere in der Verantwortung zukunftsfähig zu bleiben und am Standort Deutschland Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Dafür bedarf es aber Mut und Willen zur Veränderung. Unser Unternehmen hat sich in den letzten Jahren neu aufgestellt und sich mit dem Angang neuer innovativer Geschäftsfelder für die Zukunft optimal positioniert. Damit einher ging auch ein neues Verständnis, welche Rolle, welche Verantwortung und welchen Beitrag unsere Mitarbeiter für unser Unternehmen haben sollen. Wir haben versucht alle mitzunehmen und sie auf die Herausforderungen, die vor uns allen stehen, vorzubereiten. Jeder Unternehmer sollte es als Auftrag ansehen, dass Digitalisierung der Gesellschaft, den Menschen und den Arbeitenden nutzt.